Der Turm

10_02_turm.jpg

Christian Schwochow (Germany 2012)
SALU/DVD/TU/SF
172 min
Language: Deutsch

„Der Turm“ im Fernsehen

Die süße Krankheit gestern

04.10.2012 ·  Zu der Zeit, in der „Der Turm“ spielt, waren wir Kinder. Deswegen hat uns das Wort „Genosse“ keinen Schrecken eingejagt. So sehen wir uns den Film als „Wost-Kinder“ an: mit gemischten Gefühlen.

Von KATRIN RÖNICKE UND MARCO HERACK


Wir entstammen einer Generation, die heute um das dreißigste Lebensjahr herum pendelt. Es war also nur unsere Kindheit, die wir in der DDR verbrachten. Noch während ihrer Abschaffung sowie als Folge der Wende wanderten wir aus. In den Westen. Eine Einordnung fällt uns schwer, stehen wir als „Wost-Kinder“ doch zu oft zwischen den Empfindungen und Gedanken. Wir suchen nach Antworten. Das epische Werk „Der Turm“, eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Uwe Tellkamp, ermöglicht uns einen Anfang.

Wir klauen uns einen Weihnachtsbaum

Der zweiteilige Fernsehfilm beginnt mit dem Diebstahl eines Nadelbaumes. Weihnachtsbäume sind in der DDR rar; sie werden zentral zugeteilt, und wer für seine Klinik oder die Kirche einen haben will, muss klauen gehen. Ein Klassiker. Der Baum steht hier symbolisch für viele andere Güter, die scheinbar zu einem ganz normalen Leben dazugehören, die aber nicht so ganz selbstverständlich zu bekommen waren.

Regisseur Christian Schwochow hat sich als Einstieg in einen schweren Film eine leichte Kost ausgewählt. Etwas zum Schmunzeln, eine Szene und eine Begebenheit, die ein ganz besonders wichtiges Element von DDR-Kultur transportiert: die unfreiwillige Komik der Umstände. Ein Nährboden für eines der wichtigsten Antidots der DDR-Bürger gegen das Systems der Indoktrination und des Misstrauens: den Humor.

Die Fassaden bröckeln

Der Film betrachtet die Jahre 1982 bis 1989. Die Achtziger waren in der DDR die Phase, in der es ungemütlich wurde. Der äußerliche Zerfall wurde immer sichtbarer, zum Beispiel an den Fassaden der Häuser. Und innerlich regte sich allmählich der Widerstand. So begannen die ersten wöchentlichen Friedensgebete im September 1982 in der Leipziger Nikolaikirche. Wir selbst waren damals Kleinkinder, und so wuchsen wir in eine Welt hinein, die für uns nichts anderes als „normal“ sein konnte. Die wir einfach hinnahmen, wie sie war.

Unsere Kindheit im Osten, die jäh endete, hinterlässt nicht viel Wissen. Es sind eher grundsätzliche Verhaltensweisen und schemenhafte Erinnerungen, die uns prägten und erhalten blieben. Das leichte Zusammenzucken beim Wort „Genosse“ gehört dazu. Im Zwischenmenschlichen lassen uns Sätze wie „Das macht man so“ erschauern. Im Politischen ärgern uns stark reduzierende Fragen wie: „Bist du dafür oder dagegen?“
Das ist eine Frage, die den gesamten Film durchzieht. Sie bestimmt das Handeln der Protagonisten.

Jede Entscheidung führt zu einer Aussage für oder gegen den Staat. Zu Repression oder Belohnung. Die Hauptfiguren im Film sind ein ganz spezieller Ausschnitt aus der DDR-Realität: Familie Hoffmann aus Dresden, Vertreter eines Bildungsbürgertums, das sich Dinge leisten kann, die anderen verwehrt sind. Vater, Mutter, Kind. Gut situiert. Bürgerliche Elite.

Der Zerfall einer Familie

Der Chirurg Richard Hoffmann versucht den Zwängen des Systems durch Ignoranz auszuweichen. Ihm wohnt der Glaube inne, allein aufgrund seiner Fähigkeiten nach oben zu gelangen und dabei nicht in die Partei eintreten zu müssen, sich gar der Kirche zuwenden zu können. Er ignoriert in seinem Irrglauben nicht nur die Realität des Systems. Für ihn werden Verstöße gegen das unausgesprochene Regelwerk der DDR zur Triebfeder gen Abgrund.

Sein Sohn Christian folgt den Spuren des Vaters, das Wichtigste ist ihm die Zulassung zum Studium der Medizin. Er leidet unter dem Anspruchsdenken seines Vaters, das ihn zum „Spießer“ macht, der mit Büchern und Cello als Außenseiter dasteht. Erst als er gegen die Regeln verstößt, indem er Hitlers „Mein Kampf“ liest und sich mehrfach weigert, den Besitzer des Buches preiszugeben, wird er von seinen Mitschülern anerkannt. Er merkt dadurch, was er nicht will, und baut langsam einen inneren Widerstand auf. Dennoch geht er in die Nationale Volksarmee (NVA). Er versucht damit wieder, den Wünschen des Vaters zu entsprechend, „ein richtiger Mann“ zu sein.

An der Figur Christians vermittelt der Film zudem, wie stark es vom puren Glück abhing, ob Menschen, die in irgendeiner Art „verdächtig“ handelten, dafür eingesperrt wurden oder eben nicht. Die Geschichte mit der Hitler-Lektüre geht glimpflich aus. Doch als Christian später in der NVA das „Scheißsystem“ für den Tod seines Kameraden verantwortlich macht, kann ihm auch der erpresserische Anwalt Sperber, ein ehemaliger Klassenkamerad seiner Mutter Anne, nicht mehr helfen. Er kommt nach Schwedt ins Militärgefängnis, zur „Umerziehung“.

Beide, Vater und Sohn, bekommen die Härte des Systems zu spüren. Der Vater wird aufgrund einer verheimlichten Affäre mit Josta, der Sekretärin des Klinikchefs, angreifbar. Mit ihr hat er eine uneheliche Tochter namens Lucie. Beide lässt er zunehmend im Stich, um sich selbst und seine Karriere zu schützen. Josta versucht sich daraufhin das Leben zu nehmen, ohne Richard damit zu beeindrucken. Wenig später wird Lucie von ihm unbeachtet im Hintergrund seines gesellschaftlichen Lebens weggezerrt, nachdem sie ihren Vati auf einer Hochzeit entdeckt hat und zu ihm will. Alle sind jederzeit betroffen.

Zwischen Opportunismus und Opposition

Auch Anne Hoffmann, die Ehefrau von Richard und Mutter von Christian, ist das. Je mehr sie über Ihren Mann erfährt, desto weiter rückt sie von ihm ab. Bis hin zur Umkehrung ihrer passiven Rolle in der Ehe, in dem Moment, in dem ihr bis dahin alles bestimmender Mann von ihr selbst in die Psychiatrie eingeliefert wird. Es ist der Moment ihrer Emanzipation. Sie lässt die Zwänge der Familie hinter sich um in der Oppositionsbewegung ihren eigenen Weg zu gehen. Ein Weg der sich sehr früh andeutet, indem sie einer Freundin Telefon und menschliche Nähe bietet, deren Mann aus der DDR geflohen ist.

Anne stellt den Staat indirekt immer in Frage. Nicht offen, nur durch Beihilfe. Ein Weg, den Richards Schwager Meno Rhode nicht zu beschreiten wagt. Als Lektor, und damit zwangsweise auch Zensor, lebt er seine Konflikte im Privaten wie auch im Beruflichen aus. Seine Argumentationsgrundlage ist, dass er als Lektor ein gutes Gefühl für die Grenzen hat und niemals direkt zensiert. So meint er so viel wie möglich durch die Zensur zu bringen. Das gerät ins Wanken, als er auf die systemkritische Autorin Judith Schevola trifft. Sie enttarnt seine Haltung als die eines Opportunisten. Statt daran zu zerbrechen, sucht er ihre Nähe, gerät in den Sog der Opposition und lässt seinem unterdrückten Protest immer Hemmungsloser freien Lauf. Er gibt sich seinem inneren Drang jedoch erst in dem Moment vollends hin, als das System ohnehin schon am kippen ist.

Nicht nur Schwarz und Weiß

Der Film, der ob seiner vielen Facetten manches Mal zu gehetzt wirkt, im Grunde damit aber die Dynamik der Zeit wiedergibt, lässt kaum Verschnaufpausen. „Der Turm“ schöpft seine Atmosphäre aus dem Zwischenmenschlichen, aus dem heraus die Spannung entsteht. Begleitet wird diese durch eine stete Symbolik, die manches Mal befeuert oder gezeigtes umgehend in Frage stellt. Sie bietet den Rahmen für eine ungewollte Komik der Realität. Mit viel Liebe zum Detail wird eine Welt erschaffen, die glaubhaft die DDR darstellt. Nicht nur wegen der Repression und der damit einhergehenden Probleme. Es ist nicht das Misstrauen, in dem Glaubhaftigkeit liegt, sondern das rein menschliche, in dem auch Boshaftigkeit liegt.

Der latent vorhandene Humor der Staatsinsassen, die kleinen Spitzen des Alltags, die sich aus der Wortwahl ergeben. Bei einem „Genossen“ ist Vorsicht das Gebot der Stunde. Mit einem Priester kann Schabernack getrieben werden, und ein alter Mann, der seiner Rente entgegen wartet, ist allein deswegen nicht ungefährlich.

Der Druck des Systems ergab sich mehr durch das Wissen um die Drohung, nicht durch ihr Aussprechen. Konsequenterweise ist die Stasi im gesamten Film kaum sichtbar. Sie glänzt durch wenige Monologe, die ihre krude Logik verkörpern und die Kraft ihrer Abwesenheit untermauern.

Regisseur Christian Schwochow zog 1989 im Alter von elf Jahren vom Osten Deutschlands in den Westen. Dort wurde mit einer latenten Schimpferei über den Osten konfrontiert, die ihn dazu brachte, die DDR zu verteidigen. So sagt er über seine Motivation, „Der Turm“ zu drehen: „Wir sehen heute das Schreckliche und das Kuriose – oder wir vergessen einfach. Es entsteht ein Geschichtsbild, das irgendwann nicht mehr viel mit der DDR zu tun haben wird. Deshalb faszinierte mich eine Verfilmung von ,Der Turm‘: weil es eine Geschichte ist, die in vielen Abstufungen erzählt – nicht in Schwarz und Weiß.“ (faz)

Foto: wdr5

© H. Werner Hess 2011